Förderung und Residenzen » Mobilität und EU Kulturpolitik
Autor*innen: Richard Polácek, unabhängiger Berater für Kultur- und Sozialpolitik, Brüssel/Prag,
Marie Le Sourd, On the Move (Update 2017)
In den letzten zehn Jahren wurde die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden zu einem immer wichtigeren Thema auf der politischen Agenda der EU. Es überrascht nicht, dass das Hauptinteresse der EU an der Mobilität von Künstler*innen und Kreativen in erster Linie ökonomischer Natur ist, denn Mobilität erweitert die Möglichkeiten, kulturelle Güter und Dienstleistungen zu produzieren und auszutauschen. Dies stellt wiederum einen großen Nutzen für die Wirtschaft dar: Arbeitsplätze werden geschaffen und Neuerungen und Kreativität fließen in andere Bereiche ein, wie bspw. Wirtschaftsleben und Bildung. Diese positiven Auswirkungen der Mobilität decken sich mit den strategischen Zielen der EU, wie sie erstmals in der Lissabon-Strategie (2000) umrissen wurden – einem auf zehn Jahre angelegten Aktionsplan mit dem Ziel, die EU zu dem wettbewerbsfähigsten ökonomischen Akteur zu machen – und jetzt auch in ihrem Nachfolger, der Strategie Europa 2020. Daher rührt u.a. das Interesse der EU, die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden zu unterstützen. Erstmalig unterstützte die EU die grenzüberschreitende Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden finanziell durch das EU-Programm Kultur (2000-2007), mit Kofinanzierungen durch nationale, regionale oder lokale Förderprogramme, private Stiftungen oder Eigenmittel der Kulturschaffenden. Das Programm Kultur für den Zeitraum von 2007 bis 2013 mit einem Budget von 400 000 000 Euro macht Mobilität zum Kernthema, indem es ausdrücklich grenzüberschreitende Mobilität der im Kulturbereich Tätigen fördert sowie den transnationalen Austausch künstlerischer und kultureller Erzeugnisse anregt.
Seit 2007 arbeitet die EU verstärkt an der Unterstützung von Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden. Die Tatsache anerkennend, dass Kunst- und Kulturschaffende sich besonderen Herausforderungen gegenüber sehen, wenn sie mobil sein wollen, hat sich die EU 2007 mit der Europäischen Agenda für Kultur die Förderung ihrer Mobilität zum Ziel gesetzt. Ende 2007 billigte das Europäische Parlament (EP) einen zusätzlichen Haushalt, der ausdrücklich für Pilotprojekte zur Mobilitätsförderung von Künstlerinnen und Künstlern vorgesehen ist. Diese Pilotprojekte waren darauf angelegt die EU-Arbeit im Rahmen der Europäischen Agenda für Kultur zu unterstützen und dienten dazu – in Vorbereitung des neuen Kulturprogramms nach 2013 – neue Ideen zu testen. Zu Beginn wählte die Europäische Kommission vier Pilotprojekte (SPACE, e.mobility, Changing Room und PRACTICS) mit einer Laufzeit von zwei bis drei Jahren aus. Ziel war dabei, einen Erfahrungsaustausch und wechselseitige Lerneffekte bereits bestehender Organisationen und Netzwerke, die Mobilität unterstützen, anzuregen. 2008 billigte das EP eine weitere Haushaltslinie und 2009 wählte die Kommission weitere neun Mobilitätspilotprojekte aus. Diesmal mit dem Ziel, die Mobilität von Künstler*innen und Kreativen direkt zu fördern, indem bestehende gemeinschaftliche Mobilitätsfonds und Residenzprogramme für Künstler*innen unterstützt wurden.
Neben diesen Pilotprojekten gab die EU 2008 und 2009 auch zwei Großstudien in Auftrag, um Wissen und Kenntnisse hinsichtlich zweier Schlüsselaspekte für die Unterstützung von Mobilität zu gewinnen: Finanzierung und Informationen zu Regulierungen, die für die grenzüberschreitende Mobilität relevant sind.
Die Kommission beauftragte 2007 das ERICarts-Institut (European Institute for Comparative Cultural Research) mit einer Studie über Finanzierungswege der Mobilität von Künstler*innen. Hauptziel war, ein genaueres Bild über existierende Finanzierungsstrukturen nationaler und regionaler Behörden sowie privater Geldgeber*innen zu bekommen. Im Jahr 2008 publizierte ERICarts die Studie Mobility Matters: Programmes and Schemes to Support the Mobility of Artists and Cultural Professionals in Europe (Mobilitätsförderung in Europa: Programme und Maßnahmen zur Unterstützung der Mobilität von Künstler*innen und anderen Kulturberufen), in der die wichtigsten Mobilitätsstrukturen in Europa, deren Ziele sowie die Hauptbeweggründe der Fördereinrichtungen zur Unterstützung von Mobilität detailliert beschrieben sind. Die Studie ist eine umfangreiche Informationsquelle hinsichtlich dessen, wie Mobilität im europäischen Kultursektor finanziert wird; sie enthält außerdem eine Fülle von Empfehlungen an nationale und europäische Akteur*innen zur Verbesserung der Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden.
Mit Blick auf die Frage der Information für Kunst- und Kulturschaffende zu rechtlichen, regulativen, verfahrensrechtlichen und finanziellen Aspekten der Mobilität beauftragte das EP die Kommission mit einer Studie. Diese Studie mit dem Titel Feasibility study for a European wide system of information on the different legal, regulatory, procedural and financial aspects to mobility in the cultural sector (Durchführbarkeitsstudie für ein europaweites Informationssystem über die verschiedenen rechtlichen, regulativen, verfahrensrechtlichen und finanziellen Aspekte der Mobilität im Kultursektor) wurde 2009 veröffentlicht und untersucht eingehend den Informationsbedarf mobiler Kunst- und Kulturschaffender. Die Studie bietet weiterhin einen Überblick über existierende Informationssysteme, zeigt deren Unzulänglichkeiten auf und gibt nationalen wie europäischen Akteurinnen und Akteuren Empfehlungen, wie bestehende Lücken im Hinblick auf ein europaweites Informationssystem geschlossen werden können. Das Pilotprojekt PRACTICS implementierte und testete zwischen 2009 und 2011 ein Informationssystem, das dem in der Durchführbarkeitsstudie dargestellten sehr nahe kommt: ein Netzwerk von vier nationalen Informationsbüros, die verbunden sind mit den großen europäischen Kultureinrichtungen und die Kunst- und Kulturschaffenden maßgeschneiderte Informationen zu rechtlichen, regulativen, verfahrensrechtlichen und finanziellen Aspekten internationaler Mobilität liefern.
Um die Zielvorgaben der Europäischen Agenda für Kultur zu erreichen, verabschiedete der Rat den Arbeitsplan für Kultur 2008-2010, der die Verbesserung der Mobilitätsbedingungen für Kunst- und Kulturschaffende zu einer seiner Prioritäten machte. Der Arbeitsplan sah auch vor, mehrere Arbeitsgruppen ins Leben zu rufen, die sich aus von den Mitgliedstaaten ernannten Expert*innen zusammensetzten. Im März 2008 berief die Europäische Kommission eine Expertenarbeitsgruppe zur Verbesserung der Mobilitätsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden ein. Die Gruppe verständigte sich auf eine Reihe von Empfehlungen, die die Bedingungen der Mobilitätsförderung von Kunst- und Kulturschaffenden unterstützen und an die Europäische Kommission, die EU-Mitgliedstaaten und den Kultursektor gerichtet wurden. Das Dokument liefert einen weiten Überblick über solche Maßnahmen, die auf allen Ebenen ergriffen werden müssen, um die Verhältnisse mobiler Kunst- und Kulturschaffender innerhalb wie außerhalb der europäischen Länder nachhaltig zu verbessern.
Der Arbeitsplan für Kultur 2011-2014 des Rats misst der Mobilität weiterhin einen hohen Stellenwert zu, indem er für die nächsten Jahre unterschiedliche Aktivitäten vorsieht, wie die Auswahl und Bewertung von Programmen zur Mobilitätsförderung, um Hindernisse und Probleme zu erkennen, denen sich insbesondere kleinere Kulturbetriebe und junge Kunst- und Kulturschaffende gegenüber sehen. Dabei bleibt die Verbesserung von Informationsstrukturen zu regulativen Aspekten der Mobilität eines der Kernthemen des Arbeitsplans. Im Mai 2011 bestätigte der Rat der Europäischen Union in seinen Schlussfolgerungen zu mobilitätsspezifischen Informationsdiensten für Künstler und Kulturschaffende die Bedeutung der Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden für die EU sowie für die Erreichung der selbst gesteckten Ziele in der Strategie Europa 2020. Er appellierte an die Mitgliedstaaten und die Kommission, durch Mobilitätsinformationsdienste die Bereitstellung umfassender und präziser Informationen für diejenigen Kunst- und Kulturschaffenden zu erleichtern, die innerhalb der EU mobil sein wollen. Basierend auf dem Arbeitsplan für Kultur setzte die Europäische Kommission im Mai 2011 eine weitere Gruppe von Expert*innen ein, dieses Mal mit dem Auftrag, einen Vorschlag zu Informationsstandards im Hinblick auf Mobilität zu entwickeln. Die Gruppe setzte sich zusammen aus Vertreter*innen der Kulturministerien der Mitgliedstaaten sowie nationaler und europäischer Kulturorganisationen aller Kunstsparten, die über Erfahrung auf dem Gebiet der Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden verfügen. Im Dezember 2011 legte die Gruppe das detaillierte Dokument Information Standards for the Mobility of Artists and Cultural Professionals (Informationsstandards für die Mobilität von Künstlern und Kulturschaffenden) vor.
Die aufgeführten Aktivitäten mögen etwas enttäuschend erscheinen, da EU-Initiativen sich oftmals auf Empfehlungen, Standards und politische Appelle beschränken. Hält man sich jedoch die äußerst begrenzten Einflussmöglichkeiten der EU im kulturellen Bereich vor Augen, so muss man den Initiativen zumindest das Verdienst zugestehen, dass sie die EU-Mitgliedstaaten nachdrücklich zum Handeln auffordern und sie zu einer engeren Abstimmung bezüglich ihrer Finanzierungsstrukturen und fachspezifischen Instrumente zur Mobilitätsförderung ermutigen. Die letzten Jahre haben auch einige wichtige Änderungen in den für grenzüberschreitende Mobilität von Künstler*innen und Kreativen anzuwendenden Regelungen hervorgebracht. Darunter fällt die neue Koordinierung der Sozialversicherungssysteme in der EU, die 2010 in Kraft trat. Im selben Jahr erließ die EU einen neuen EU-Visakodex, der neue Visakategorien und damit veränderte Aufenthaltsbedingungen für Drittstaatsangehörige mit sich brachte. Doch ist es sicherlich noch zu früh, um zu beurteilen, inwieweit diese Neuregelungen die häufige und befristete Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden erleichtern.
Wenngleich sich die erwähnten Aktivitäten hauptsächlich auf die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden zwischen EU-Ländern konzentrierten, enthielten sie ebenfalls Vorschläge zu Aktivitäten und Empfehlungen hinsichtlich der Mobilität zwischen EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern. Im Mai 2011 erließ das EP eine Entschließung zu den kulturellen Dimensionen der auswärtigen Politik der EU und beauftragte die Kommission mit einem Vorschlag zu einer Kurzzeit-Visa-Initiative mit dem Ziel, Hindernisse der Mobilität im Kultursektor zu beseitigen.
Die relativ junge Geschichte des Engagements der EU zugunsten der grenzüberschreitenden Mobilität von Künstler*innen und Kreativen darf das bereits über lange Zeit betriebene und anhaltende Engagement verschiedener kultureller Organisationen nicht vergessen lassen. Einige von ihnen arbeiten seit über dreißig Jahren aktiv an der Verbesserung der Mobilitätsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden. Unter ihnen sind Organisationen wie Pearle* (Performing Arts Employers’ Associations League Europe), Trans Europe Halles, Dutch Culture I Trans Artists und viele andere, einschließlich berufsständiger Organisationen auf nationaler und regionaler Ebene. Ein bedeutender Wegbereiter auf diesem Gebiet war immer schon das internationale Netzwerk IETM (International Network for Contemporary Performing Arts). Im Jahr 1999 schuf es den Roberto Cimetta Fonds, um Kunst- und Kulturschaffende zu unterstützen, die reisen wollen, um zeitgenössische Kulturprojekte im euro-mediterranen Raum und besonders in der arabischen Welt zu entwickeln. 2003 baute IETM außerdem das Online-Portal für den Sektor der Darstellenden Kunst On the Move auf, aus dem 2009 Europe’s network for cultural mobility information (Europas Informationsnetzwerk für kulturelle Mobilität) wurde. Hierunter gruppierten sich mehr als 30 Organisationen aus ganz Europa einschließlich europäischer Kulturorganisationen, die sich mit kultureller grenzüberschreitender Mobilität befassen. Wie bereits erwähnt, haben zwischen 2008 und 2011 viele Kulturorganisationen in Europa ihre Kräfte rund um die Pilotprojekte zur Mobilität gebündelt, tauschten ihren Erfahrungsschatz in der Unterstützung von Mobilität aus und verabschiedeten gemeinsame Empfehlungen, um Politiker*innen auf nationaler und europäischer Ebene zur Verbesserung von Mobilitätsbedingungen aufzufordern.
Neben diesen europaweiten Aktivitäten wurden in den letzten Jahren viele Initiativen zur Mobilität von Künstler*innen und Kreativen auf nationaler Ebene ins Leben gerufen. In der Tschechischen Republik, in Finnland, Frankreich, Italien, Portugal und Spanien wurden Studien und Berichte über kulturelle Mobilität durchgeführt. Ebenso gab es verschiedene Initiativen in einzelnen Sparten, wie zum Beispiel eine Reihe von Konferenzen und Empfehlungen zur Mobilität von bildenden Künstler*innen in Europa, organisiert von der IGBK, oder das von der EU finanzierte Projekt ON-AiR (2010-2012) von Trans Artists zu Residenzen für Künstler*innen.
Das Überschreiten von Ländergrenzen gehörte zum Leben von Künstler*innen und Kreativen schon immer dazu. Europas Geschichte ist voll von Beispielen von Kunstschaffenden, die grenzüberschreitend gearbeitet haben und die sowohl die Kultur ihres Heimatlandes wie die ihres Gastlandes beträchtlich bereichert haben. Die Zukunft wird nicht anders sein und Kunstschaffende werden weiterhin Grenzen überschreiten, auch wenn die heutigen und künftigen Künstler*innen und Kreativen andere Wege der Mobilität, darunter auch virtuelle, einschlagen mögen. Sie werden aber auch Herausforderungen gegenüber stehen, die ihre grenzüberschreitende Erfahrung immer komplexer machen: In den vergangenen Jahren wurden Kulturorganisationen in Europa Zeuge von immer komplizierteren Verwaltungsverfahren, insbesondere in Hinblick auf Visa und Arbeitserlaubnisse für außereuropäische Kunst- und Kulturschaffende. Welche speziellen Visa-Regelungen und -Verfahren der Kulturbereich in Zukunft einfordern kann, ist ungewiss.
Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise erfährt der gesamte Kulturbereich in der EU starke und beispiellose Kürzungen. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen für Kunst- und Kulturschaffende und ihre Arbeitsbedingungen sowie für ihr Anliegen und ihre finanziellen Möglichkeiten, international zu arbeiten. Zuweilen zwingen Kürzungen Kunst- und Kulturschaffende dazu, besonders mobil zu sein und im Ausland nach Förderquellen zu suchen – nur um überleben zu können, ungeachtet ihrer eigenen Wünsche nach Mobilität. Was die finanzielle Förderung der EU für grenzüberschreitende Mobilität angeht, werden ab 2014 wichtige Änderungen in Kraft treten. Ein neues EU-Programm wird die existierenden Programme KULTUR, MEDIA und MEDIA MUNDUS zu einem Programm mit einem Gesamtumfang von 1 800 000 000 Euro für den Zeitraum 2014-2020 zusammenfassen. Das neue Programm mit dem Namen Kreatives Europa wurde im November 2011 von der Europäischen Kommission vorgeschlagen und wird gegenwärtig vom Ministerrat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament diskutiert.
Umweltauflagen werfen Fragen nach der ökologischen Verantwortung und Nachhaltigkeit von kultureller Mobilität auf. Siehe hierzu bspw. die Studie von On the Move/Julie’s Bicycle: Green Mobility Guide.
Schließlich hat die Digitalisierung der Kultur immer größeren Einfluss auf die Künste und neue Formen der Mobilität, wie bspw. die virtuelle Mobilität, sind entstanden. In diesem Zusammenhang stellen sich komplexe Fragen zum Urheberrecht.
Aus den gegenwärtigen und zukünftigen Änderungen und Herausforderungen ergeben sich für Kunst- und Kulturschaffende immer mannigfaltigere Bedürfnisse nach präziser Information, um ihre mobilen Tätigkeiten bewerkstelligen zu können. Dies macht die Bereitstellung von Informationen zu grenzüberschreitender Mobilität zu einer herausfordernden, jedoch unerlässlichen Aufgabe.
– Richard Polácek (2013) –
Wie Richard Polácek 2013 richtig bemerkte, ist die „Bereitstellung von Informationen zu grenzüberschreitender Mobilität eine herausfordernde, jedoch unerlässliche Aufgabe“. Wie wichtig diese Aufgabe ist, wurde im Rahmen zweier Treffen von Vertreter*innen der EU-Mitgliedsländer und Vertreter*innen aus der Branche, die von der Europäischen Kommission einberufenen worden waren, besonders betont: Artists’ mobility, social security and taxation in the EU (Mobilität, soziale Absicherung und Besteuerung von Kulturschaffenden in der EU) im Juni 2014 und das Stock-taking meeting – Mobility of artists and cultural professionals (Treffen zur Bestandsaufnahme – Mobilität von Künstler*innen und Kulturschaffenden) im Mai 2016.
Auf dem ersten Treffen präsentierte On the Move den Bericht Artists’ Mobility and Administrative Practices Related to Social Security and Taxation in the European Union (Mobilität von Künstler*innen und die Verwaltungspraxis in Fragen der sozialen Absicherung und Besteuerung in der Europäischen Union), den das Europäische Expertennetzwerk für Kultur (EENC) in Auftrag gegeben hatte. Der in Zusammenarbeit mit PEARLE* verfasste Bericht erinnert in gewisser Weise an die Studie zu Mobilitätserschwernissen im europäischen Live-Performance-Sektor und mögliche Lösungsstrategien (Study on Impediments to Mobility in the EU Live Performance Sector and on Possible Solutions), die Richard Polácek 2007 veröffentlicht hatte. Er nennt eine Reihe Hürden, mit denen sich besonders vielreisende Kunst- und Kulturschaffende konfrontiert sehen, und weist auf zwei Hauptaspekte hin: Kunst- und Kulturschaffende finden immer schneller Lösungen für ihre Probleme, aber aus verschiedenen Gründen sind ihre Fragen ungleich komplexer geworden. „Es ist für Kunst- und Kulturschaffende oft schwer, ihren Status zu kennen und zu wissen, was ihre spezifische Situation in den verschiedenen Ländern voraussetzt (z. B. kann sich ihre berufliche Situation mit der Zeit und je nach Land verändern, ihre Karriere ist kaum vorhersehbar, Kunstschaffende nehmen Aufträge an, die nicht notwendigerweise in der gleichen Branche angesiedelt sind, Kulturschaffende profitieren in manchen Ländern neben den üblichen europaweit geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen von besonderen Bedingungen – oft als „Künstler*innen-Status“ bezeichnet, je nachdem, welche Möglichkeiten sich ihnen eröffnen, können Kunst- und Kulturschaffende nicht immer entscheiden, ob sie angestellt oder selbstständig tätig sein wollen usw.). Dies könnte bedeuten, dass mobile Kunstschaffende keine klaren Vorstellungen von ihren Rechten und Pflichten haben.“ Es besteht also weiterhin immer wieder Bedarf an individuellen Angeboten, insbesondere im Bereich Besteuerung, soziale Absicherung und Visa-Fragen.
Als ersten Schritt zur Lösung dieser komplexen verwaltungstechnischen Frage präsentierte On the Move auf dem zweiten Treffen im Jahr 2016 ein Netz von „Mobility Info Points (MIPs)”: Informationsstellen für Mobilität, eingerichtet zum Beispiel von Organisationen, die (als Teil- oder Hauptaktivität) kostenlose und professionelle Beratung für mobile Kunst- und Kulturschaffende anbieten. Diese MIPs befinden sich in Ländern oder Regionen, die den höchsten Zufluss und Abfluss von Mobilität verzeichnen1: Cultuurloket – Belgien, MobiCulture – Frankreich, touring artists (angebunden an die IGBK und das ITI) – Deutschland, DutchCulture / TransArtists – Niederlande, Wales Arts International – Wales/GB und Theatre Info Finland – Finnland. Kürzlich wurde die Gruppe zudem um zwei neue Mitglieder bereichert, davon eines in Portugal, Polo Cultural Gaivotas | Boavista, und eines in der Tschechischen Republik, das Arts and Theatre Institute (ab 2018). Mit diesen beiden Mitgliedern hat sich das Netz der MIPs auf Länder ausgeweitet, in denen Mobilität eine Folge wirtschaftlicher Notwendigkeit ist, wenn Kulturschaffende ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen (müssen). Gerade im Hinblick auf individuelle Beratungsressourcen in Verwaltungsangelegenheiten ist es für diese MIPs überaus wichtig, an Länder mit starkem Zufluss mobiler Kulturschaffender angebunden zu sein.
1Ausgehend von der Anzahl an Mobilitätsförderprogrammen, die in den Leitfäden für Mobilitätsförderprogramme in Europa genannt werden.
Aus Sicht der Politik erscheinen die Maßnahmen im Bereich kulturelle Mobilität jedoch dünn gesät, verglichen mit dem letzten EU-Arbeitsplan Kultur (EU Work Plan for Culture) und den vergangenen zehn Jahren, in denen eine Menge Pilotprojekte von EU-Programmen unterstützt wurden. So wird die Fragestellung kulturelle Mobilität im Work Plan for Culture 2015-2018, den der Rat am 25. November 2014 verabschiedet hat, neben anderen wichtigen Themen wie kulturelle Vielfalt und Kultur in den Außenbeziehungen der EU auch erst im letzten Kapitel aufgegriffen. D3) b. Mobilität von Kulturschaffenden, Steuerhürden inbegriffen, die die grenzüberschreitende Mobilität von Kunstschaffenden beeinträchtigen. Die Teilnahme von Steuerfachleuten ist ausdrücklich erwünscht. Mit dieser Zielsetzung hat die Europäische Kommission das Treffen zur Bestandsaufnahme initiiert.
Administrative Hürden in Verbindung mit kultureller Mobilität gehören weiterhin zu den größten Herausforderungen. Es wäre jedoch bedauerlich, die Mobilität von Kulturschaffenden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Bandbreite kniffliger Verwaltungsfragen zu betrachten, die mit ihr einhergehen.
Möglicherweise ist man davon ausgegangen, dass der Themenkomplex kulturelle Mobilität vom letzten EU-Arbeitsplan Kultur erschöpfend abgedeckt wurde? Was das betrifft, so sollten die beiden Hauptberichte der OKM-Gruppe (OKM – offene Koordinierungsmethode, eine Gruppe Repräsentant*innen von EU-Mitgliedstaaten, die bewährte Verfahren und Kenntnisse verbreiten) in Betracht gezogen werden, in denen spezifische Fragen der kulturellen Mobilität und Residenzen für Kunstschaffende behandelt werden. Dies sind der Bericht über die Schaffung wirksamer Rahmenbedingungen für die Mobilität von Kunstschaffenden: fünf Leitprinzipien (Report on Building a Strong Framework for Artists’ Mobility: Five Key Principles, 2013) und das Handbuch der EU für Künstler*innen-Residenzen (EU Handbook on Artists’ Residencies, 2014).
Oder liegt es daran, dass sich die Erhebung verlässlicher Daten zur Mobilität von Kunstschaffenden, sowohl was den Zufluss also auch den Abfluss betrifft, auf der Ebene der Mitgliedsstaaten aus Gründen fehlender Referenzrahmen, die das Aufstellen von Vergleichen, den Nachweis von Tendenzen und Aussprechen von Empfehlungen ermöglichen, weiter schwierig gestaltet?
Oder daran, dass es unserer Branche an qualitativ hochwertigen und neutraleren Evaluationsverfahren fehlt, die abbilden könnten, wie sich Mobilität auf Kunst- und Kulturschaffende, genauer auf ihr Berufsleben, ihre Organisationsformen, die Regionen, die sie besuchen, die Bevölkerungsgruppen, aus denen sie stammen und so weiter, genau auswirken? „Die Tendenz, den Nutzen von Mobilität am entstehenden Profit zu messen und der damit einhergehende Druck, ihre Auswirkungen, Produktivität und Anwendbarkeit aufzuwiegen, ist in den Künsten äußerst problematisch. Mobilität kann jedoch nicht länger unkritisch bejaht werden, selbst wenn wir immer stärkere Argumente für ihre Notwendigkeit finden müssen.“2
Wurde der Fokus im EU Work Plan for Culture zu stark auf die wirtschaftliche Bedeutung des Kunst- und Kultursektors gelegt? Gab es eine Vision von kultureller Mobilität, die über ihre Eigenschaft als „Déjà-Vu“-Angelegenheit hinausginge? In diesem Zusammenhang hat das Programm Kreatives Europa für 2014 bis 2020 mit einem Gesamtbudget von 1,45 Milliarden Euro, wovon 56% in den Programmabschnitt Medien, 31% in den Kultursektor und 16% in den spartenübergreifenden Topf fließen, überaus ökonomische Zielsetzungen, die mit der EU-2020-Strategie in Einklang stehen (Stimulierung einer internationalen Verteilung von Arbeit, Stärkung des finanziellen Potenzials des Segments und so weiter).
2Taru Elfvin: Residencies & future cosmopolitics. In: /re/framing the international. Kunstenpunt / Flanders Institute of the Arts (November 2017): www.flandersartsinstitute.be/specials/international-co-operation
Allerdings hat sich der Kontext in Europa und weltweit seit Ende 2014 stark gewandelt: Terroristische Anschläge erschüttern unter anderem Frankreich, Belgien, Großbritannien und Deutschland, es gibt weiterhin ein großes Flüchtlingsaufkommen, die Ergebnisse bestimmter Wahlen und Abstimmungen, wie der Brexit und die Wahl Donald Trumps in den USA, beeinflussen die ganze Welt, und allgemein erleben wir zunehmenden Populismus.
Dieser Kontext stellt viele Menschen und insbesondere Kunst- und Kulturschaffende in Visa-Fragen vor noch größere Herausforderungen, wie Khadija El Bennaoui in seinem jüngst veröffentlichten UNESCO-Weltkulturbericht 2018 Surviving the paradoxes of mobility (Widersprüche der Mobilität überwinden) nachweist.3 Die Überarbeitung des Schengener Visa-Kodexes lässt weiterhin auf sich warten und die Schaffung eines Tournee-Visums steht nicht mehr oben auf der Agenda.
Positiv ist zu vermerken, dass neue Programme und Fördermöglichkeiten geschaffen sowie Finanzierungsmodelle leicht angepasst wurden, um Veränderungen zu begegnen, die das Flüchtlingsaufkommen mit sich bringt, und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass viele Geflüchtete professionelle Künstler*innen und Kulturschaffende sind. Auch im Programm Kreatives Europa finden sich entsprechende Anpassungen (hier finden Sie eine Liste von Initiativen, Mappings und Projekten in diesem Bereich). Darüber hinaus verschiebt sich das Hauptförderkriterium – zumindest in den obengenannten Ländern, die den größten kulturellen Austausch verzeichnen – verstärkt von „die Nationalität eines Landes haben“ zu „in einem Land leben“.
Zu guter Letzt erfolgt eine deutliche Verschiebung hin zu verstärktem Aufbau von Kapazitäten, Schulungen und Mobilitätsformaten für die Erwachsenenbildung. Die verschiedenen Formate für kulturelle Mobilität lassen sich in vier Kategorien einteilen: kulturelle Mobilität für Begegnungen (Netzwerktreffen, Konferenzen, Workshops, Recherche/Perspektivenwechsel usw.), Formate für den kreativen Prozess (Residenzen, Kollaborationen usw.), zum Zwecke der Internationalisierung (Tourneen, Export, marktbezogene Veranstaltungen usw.) und für Lernzwecke (wie Schulungen, Kapazitätsbildung, Personalaustausch).
Letzteres wurde auf europäischer Ebene in den letzten zwei Jahren deutlich ausgebaut und diversifiziert4, wie zum Beispiel im Hinblick auf kulturelle Netzwerke, von denen die meisten solche Aktivitäten wie Personalaustausch, Schulungen und E-Learning intensiviert haben. Hinzu kamen Projekte, die vom Programm Kreatives Europa oder anderen EU-Förderformaten wie ERASMUS+ oder den Programmen von Kulturinstitutionen, wie Festivals, Kulturzentren und regionale Einrichtungen, gefördert wurden.5
Interessanterweise beobachten wir seit 2017 ein zunehmendes Interesse für die Mobilität von Kulturschaffenden und besonders die Frage nach geeigneten gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie eine verstärkte Konzentration auf die Mobilität von insbesondere jüngeren und aufstrebenden Kunst- und Kulturschaffenden in ihrer Funktion als Unternehmer*innen. Auf nationaler Ebene forderte das italienische Kulturministerium (mit Unterstützung der Regierungen in Frankreich und Deutschland) Mobilitätsunterstützung für junge Menschen im Kunst- und Kultursektor, womit es in gewisser Weise den Vorschlag von Emmanuel Macron, ein Erasmus für die Kultur zu schaffen, aufgriff.
Was die Beziehungen auf EU- und internationaler Ebene betrifft, „empfehlen Mitglieder des Europäischen Parlaments in Übereinstimmung mit der neuen Resolution zur Rolle der Kultur in den EU-Außenbeziehungen eine effiziente EU-Strategie für internationale Beziehungen im Bereich Kultur zu entwickeln, begleitet von einem jährlichen Aktionsplan; und […] eine eigene EU-Haushaltslinie zu gewähren, um die internationalen Beziehungen im Kulturbereich zu fördern sowie ein EU-Programm zugunsten internationaler Mobilität und Austausch für junge Kulturschaffende und Künstler*innen zu schaffen“. (Juli 2017)
Im Dezember 2017 schließlich forderte der Europäische Rat „die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten auf, mögliche Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die dazu beitragen, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für den Ausbau der Kultur- und Kreativbranche sowie die Mobilität von Kulturschaffenden zu verbessern.“
Sowohl aus administrativer als auch narrativer Sicht bleiben Herausforderungen zweifellos bestehen, und es braucht mehr Erfolgsgeschichten, die auf Veränderung durch Mobilitätserfahrungen hinweisen. Gleichzeitig muss das Thema Mobilität im Kunst- und Kultursektor immer wieder auf die Agenda gesetzt werden. Nichtsdestotrotz sollten die 2017 offiziell angekündigten, neuen Förderkonzepte für Mobilität in Europa und darüber hinaus durch die Integration eines umfassenderen und inklusiveren Ansatzes für kulturelle Mobilität im nächsten Arbeitsprogramm für Kultur ergänzt werden (darüber wird im Rahmen der österreichischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 abgestimmt). In diesem Sinne „[müssen die Institutionen] sich zur Entwicklung inklusiverer Praktiken zwischen den Ländern verpflichten, die jetzt unter uns und zwischen uns ausgebaut werden müssen – zwischen Kulturen und Völkern, Disziplinen und verschiedenen Formen der Wissensproduktion, aber auch zwischen individuellen Praktiken und kollektiven Prozessen“6.
Diese neuen Förderkonzepte sollten auch berücksichtigen, was bereits auf nationaler und regionaler Ebene durch Fördertöpfe wie STEP by the European Cultural Foundation, PICE von der Spanischen Kulturbehörde, International Visegrad Fund, dem Nordic-Baltic Mobility Programme for Culture und neueren Mobilitätsfonds, wie Mobility First! von der Asia-Europe Foundation und TelepART vom Finnischen Kulturinstitut erreicht wurde.
In diesem Zusammenhang erscheint kulturelle Mobilität als Gelegenheit, weiterbestehende Benachteiligungen bei der Zugänglichkeit und Vergabe von Fördermitteln in Europa und im internationalen Kontext abzubauen, insbesondere in süd- und südosteuropäischen Ländern, die nicht von einer regionalen Partnerschaft profitieren. Dieses Ziel werden wir auf der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema verfolgen, die On the Move Ende Januar 2018 organisiert.
– Marie Le Sourd (2017) –
3https://en.unesco.org/creativity/global-report-2018 - wrapper-node-14531
4Beruht auf Daten, die On the Move für seine Website gesammelt hat: http://on-the-move.org/about/ourownnews/article/18409/analysis-of-on-the-move-news-articles-2016-visual/
5Um nur einige Programme zu nennen: Europäische Kulturnetzwerke: IETM Campus, ENCC BECC Personalaustausch-Programm, ETC European Theatre Academy Avignon; TEH start up support programme; EU-geförderte Programme: STAMP von EMC und Live DMA mit einer Reihe Webinare, ICCI Training on internationalisation; Organisationen: CIFAS Producers’ Academy, Spectacle Vivant en Bretagne, Deploy usw.
6Taru Elfvin: Residencies & future cosmopolitics. In: /re/framing the international. Kunstenpunt / Flanders Institute of the Arts (November 2017): www.flandersartsinstitute.be/specials/international-co-operation